Wurde im Menüpunkt "Information für Interessierte" eine erste Einleitung zur Gestalttherapie gegeben, so soll nun eine detailliertere Darstellung erfolgen:
Die Persönlichkeitstheorie
Der Mensch in seiner Ganzheit
Die Gestalttherapie betrachtet den Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit und als Gestalter wie auch Gestalteten seines historisch gewachsenen sozialen, politischen und ökologischen Umfeldes. Der Holismus (Smuts) bzw. die Organismustheorie (Goldstein) betonen den ökologischen Aspekt menschlichen Lebens. Menschen werden als Teil der Evolution und somit als Teil sowohl des natürlichen wie auch des kulturellen Umfeldes gesehen. Beide sind historischen Veränderungen unterworfen.
Schöpferische Anpassung an das Umfeld
Die Ressourcen und Fähigkeiten eines Menschen zur "Schöpferischen Anpassung" an das Umfeld können durch unzuträgliche Bedingungen geschädigt bzw. unterentwickelt sein, wobei die zwischenmenschlichen Beziehungen von allergrößter Bedeutung sind. Kommunikation, d.h. die Gestaltung dieser Beziehungen, beruht auf dem Zusammenwirken körperlicher, seelischer und geistiger Prozesse.
Hier und Jetzt
Die Prägungen durch die Vergangenheit und die Erwartungen an die Zukunft fließen immer in die Beurteilung der gegenwärtigen Lage mit ein. Veränderung ist nur im aktuellen Geschehen des Hier und Jetzt möglich.
Zwischenmenschlichkeit als tragender Grund
Kontakt, Begegnung und Beziehung sind grundlegende Konzepte für das zwischenmenschliche und dementsprechend für das therapeutische Geschehen. Das Umfeld im erwähnten, vollständigen Sinne prägt dieses Geschehen zu jeder Zeit mit.
Psychische Struktur
Das Konzept des Selbst als eine Struktur, die sich im Fluss jeweils gegenwärtiger Kontakte entfaltet, ist Grundlage für das Verständnis von gelingender und von beeinträchtigter Bewältigung des individuellen Lebens.
Drei Funktionen lassen sich unterscheiden:
- Vitale Basisfunktionen: Körperprozesse, Wahrnehmungen und kreative Prozesse.
- Steuerung: Entscheidung und Steuerung des Handelns. Diese Funktion ist vor allem dann von gerichtetem Bewusstsein begleitet, wenn Schwierigkeiten zu bewältigen sind.
- Personale Identität: Das System der Einstellungen im zwischenmenschlichen Bereich sorgt für ein kontinuierliches Empfinden der eigenen Identität und stellt die Verantwortungsstruktur des Selbst dar.
Gesundheits- und Krankheitsverständnis
Gesundheit wird hier als die Fähigkeit eines Menschen, seine physischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse ohne Schaden für sich und sein Umfeld zu befriedigen, definiert. Dabei gehen wir von einer produktiven Auseinandersetzung mit der Umgebung, der Berücksichtigung des Rhythmus von Kontakt und Rückzug und vom ungestört ablaufenden Gestaltbildungsprozess aus. Störungen (Krankheiten) entstehen durch Defizite, konflikthafte Kontakte und durch Über-, Unter- oder durch uneinheitliche Stimulation.
In der Gestalttherapie wird angenommen, dass psychische Störungen in unerledigten Bedürfnissen und Handlungsvollzügen ihren Ursprung haben und dass sich entsprechende Einschränkungen der Kontaktfähigkeit, der Wahrnehmung und der Gefühle in der PsychotherapeutIn-KlientIn/PatientIn-Interaktion wieder finden lassen.
Praxislehre
Die therapeutische Beziehung ist die Basis für das Wagnis neuer Erfahrungen
Die Gestalttherapie geht existentiell, experimentell und erlebnisorientiert vor. Der Ansatz ist phänomenologisch begründet.
Im Zentrum stehen die KlientInnen in ihrer existentiellen Situation, in direktem Kontakt mit ihren TherapeutInnen hier und jetzt. Blockierungen, Fixierungen, blinde Flecken und abgespaltene Persönlichkeitsanteile werden in der therapeutischen Begegnung entdeckt und bearbeitet. Ein tendenziell lebenslanger Wachstumsprozess (Tendenz zur Ausweitung des Vorstellungs- und Handlungsspielraumes durch gelungene neue Erfahrungen) ermöglicht Stabilisierung und Veränderung bis ins hohe Alter.
Unerledigte Situationen werden neu aufgerollt und abgeschlossen
In der Gestalttherapie liegt der Fokus auf dem Prozess der bewussten Wahrnehmung der eigenen Empfindungen und des Kontakts zur Umwelt und zum Gegenüber. In Anlehnung an die Ergebnisse der Gestaltwahrnehmungspsychologie in Bezug auf die äußere Sinneswahrnehmung zeigt die Gestalttherapie, dass wir nur dann eine klare, prägnante Wahrnehmung innerer Erlebnisse erlangen, wenn wir Vergangenes beenden und in den Hintergrund treten lassen können, bzw. wenn die Figur des alten Bedürfnisses sich in den Hintergrund auflöst und für eine neue Figur Platz macht. Eine so genannte "unerledigte Situation" äußert sich als Verwirrung des Gedankenganges, verarmtes Gefühlsleben, schlägt sich als Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeit oder psychosomatisches Leiden nieder. In der Regel führt das zu Störungen im sozialen Leben: in der Partnerschaft, in den Beziehungen zu den Kindern, im Beruf. Die "unerledigte Situation" kann in der Gegenwart reinszeniert, in der psychotherapeutischen Interaktion durchgespielt, bewusst gemacht und so einer neuen Lösung zugeführt werden.
Im Falle schwerer Störungen, die etwa auf Defizite, Traumatisierungen, widersprüchliche Stimulierungen usw. zurückgehen, richtet sich die Aufmerksamkeit der Therapeutin oftmals auf die nonverbalen Äußerungen wie Mimik und Körpersprache sowie auf die entstehende Atmosphäre als Ausdruck des "Dazwischen", der sich re-inszenierenden Beziehungen aus womöglich sehr früher Zeit. Hier wirkt vor allem das einfühlsame Eingehen auf diese Signale durch adäquates "Antworten" gemäß dem damaligen Alter der Person.
Ebenso wird das Beziehungsgeflecht der Familie als Ganzes und deren – womöglich gestörte und mangelhafte – Einbettung in das soziale Umfeld anhand aktueller Äußerungen und Verhaltensmuster des Klienten/der Klientin aufgespürt und einer Neugestaltung zugänglich gemacht.
Dadurch kommt der gesamte Hintergrund der aktuellen Problematik ins Blickfeld, wozu auch unaufgearbeitete Familiengeheimnisse und –tragödien sowie die Verwicklung der früheren Generationen in historische Ereignisse gehören.
Widerstand als Beistand
Widerstand gehört zu den zentralen Konzepten von Gestalttherapie wie von Psychotherapie überhaupt. Gemeint ist das Vermeiden/Verhindern von persönlicher Veränderung - obwohl gewünscht - z.B. durch Müdigkeit, Vergessen, Trotz, Ablenkungsmanöver. Gemäß der "Kraftfeldanalyse" Lewins (1951) zeigt das Nichtbewegen auf ein erwünschtes Ziel hin vorhandene Gegenkräfte an. E. u. M. Polster (1975) sprechen von intrapersonellen Barrieren, K. Schneider (1981) von einer automatisierten Rettungsaktion. Dementsprechend versteht man Widerstand in der Gestalttherapie als ein oft schon in der frühen Kindheit eingeübtes Verteidigungsmanöver, das die Person gegen Zumutungen der Außenwelt und gegen eigene, als gefährlich eingeschätzte Impulse schützen soll. Er wird als Stoppsignal interpretiert, das dem Schutz, der Integrität und Stabilität dient.
Bevor die Betroffenen sich den Umgang damit bewusst zugänglich machen können, was bedeutet, sich mit der ursprünglichen Sinnhaftigkeit der Maßnahme zu identifizieren, vermögen sie sich nicht frei für etwas anderes zu entscheiden. Eben diese Möglichkeit bereitzustellen, lässt den Widerstand als Beistand anerkennen (F. Perls u.a.1979).
Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Organisationen und Institutionen, die sich einer Veränderung unterziehen sollen, zeigen Widerstandsphänomene (E. Nevis 1988).
Die Bewusstheit seiner selbst und des Feldes ist heilsam
Das Gewahrsein und die Bewusstheit in Einklang mit emotionalem Erleben verfügen über eine heilende Kraft, die über das rein kognitive Erfassen von Fakten hinausgeht. Die Bewusstheit des intrapersonalen (individuellen) und des interpersonalen (zwischenmenschlichen) Geschehens wie auch der Sachgesetzlichkeiten des Feldes führen zu einem existentiellen Kontakt mit sich selbst und mit der Umwelt. Was im Hier und Jetzt dem Bewusstsein zugänglich wird, ist auch der Veränderung zugänglich (paradoxe Theorie der Veränderung). Die Gegenwart gilt als die einzige reale Zeit in dem Sinne, als sie unmittelbar erlebt wird und Handeln nur in der Gegenwart stattfindet.
Der "mittlere Modus" als Möglichkeit, sich den Kräften des Lebens anzuvertrauen
Geübt wird ein "mittlerer Modus" zwischen aktiv und passiv (schöpferische Indifferenz) (S. Friedlaender), welcher Achtsamkeit (Awareness) gegenüber den eigenen Impulsen wie auch gegenüber den Gegebenheiten des Feldes (des jeweiligen Umweltausschnittes) erlaubt. Bei ausreichendem Vertrauen in die eigenen Kräfte (und unterstützt durch die psychotherapeutische Beziehung) wächst die Fähigkeit des Klienten/der Klientin, sich dem Geschehen ohne übermäßiges Kontrollbedürfnis zu überlassen.
Interventionen
Die Vielfalt an Interventionsmöglichkeiten ist eines der besonderen Qualitätsmerkmale der Gestalttherapie, demgemäß wird diesem viel Raum gegeben. Es gibt verschiedene Ansätze zur Traumarbeit, es wird mit Imaginationen gearbeitet, zahlreiche Mittel des kreativen Ausdrucks (Schreiben, Malen, Modellieren, Musik, usw.) werden personen- und situationsangemessen eingesetzt, es werden Interventionen auf der körperlichen Ebene gesetzt und auch Rollenspiele und Reinszenierungen wichtiger Erlebnisse durchgeführt. Das therapeutische Experiment spielt eine bedeutende Rolle, sowohl für die Verarbeitung von Konflikten und Mobilisierung von Ressourcen als auch als Probehandlung für neue Handlungsmuster.
Wichtig sind das Beachten der jeweilig individuellen Aspekte einer Situation und das Umsetzen in passende Experimente (L. Perls).
Der spezifische integrative Ansatz der Gestalttherapie zeichnet sich durch gezielten Einbezug der Gruppendynamik aus. Dem Gruppenprozess sowie den drei Ebenen psychischen Geschehens – intrapersonell, interpersonell und Gruppe bzw. Ganzheit – werden bewusst sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet. Ein weiterer Schwerpunkt ist die systemische Sichtweise.
Anwendungsbereiche
Die Gestalttherapie eignet sich für alle psychotherapeutischen Settings und wird in der Einzeltherapie, Paartherapie, Familientherapie und Gruppentherapie angewendet. Auch in der Supervision findet sich der Gestaltansatz wieder: in der Einzel- und Gruppensupervision, in der Fall- und in der Teamsupervision. Der Gestaltansatz wird weiters in der Gestaltpädagogik und der Organisationsentwicklung verwendet. Die Gestalttherapie wird zudem im klinischen Bereich praktiziert (z.B. in der Psychiatrie, in der klinischen Psychologie, in psychosomatischen Kliniken, in der Suchtbehandlung oder in diversen Beratungsstellen) wie auch in der freien psychotherapeutischen Praxis. Je nach Störungsbild und Lebenszusammenhang des(r) PatientIn wird der gestalttherapeutische Ansatz maßgeschneidert eingesetzt.
Die Gestalttherapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das wissenschaftlich anerkannt und weltweit verbreitet ist und dessen wissenschaftliche Fruchtbarkeit durch zahlreiche Publikationen dokumentiert wird.
Gesetzlicher Rahmen
Die Gestalttherapie ist eine in Österreich gesetzlich anerkannte Psychotherapiemethode. Sie wird im Rahmen der EAGT (European Association for Gestalt Therapy) in Korrespondenz mit den internationalen Entwicklungen in der Psychotherapie und in anderen relevanten Wissenschaften weiterentwickelt.
Gründer
Die Gestalttherapie wurde vom Berliner Psychiater und Psychoanalytiker Friedrich S. Perls (1893-1970) und seiner Frau, der Gestaltpsychologin und Psychoanalytikerin Lore Perls (1905-1990) entwickelt. Beide waren deutsche Juden, die an den bedeutenden geistigen Strömungen der Zwischenkriegszeit teilnahmen, bis sie vor dem Nationalsozialismus über Holland nach Südafrika flüchteten. Später wanderten sie wegen der Apartheid in die USA aus.
Quellen
Aus der Auseinandersetzung mit der
- Psychiatrie und der Psychoanalyse (S. Freud, S. Ferenczi, O. Rank, K. Landauer),
mit zentralen philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts:
- Gestaltpsychologie (Wertheimer, Koffka, Gelb), Feldtheorie (Lewin), Organismische Theorie (K. Goldstein), Relativitätstheorie, Holismus (Smuts) und Phänomenologie;
- Existenzphilosophie (Buber, Tillich) und philosophische Sozialkritik (G. Landauer)
unter Einbezug östlicher Philosophien:
- Existenzphilosophie, Tao
und unter Einbezug von moderner Tanz- und Schauspielkunst sowie von Körperarbeit und psychodramatischer Methodik:
- Max Reinhardt, Elsa Gindler, Wilhelm Reich, Jakob Levy Moreno
entstand die Gestalttherapie. Wesentliche Beiträge kamen in den USA von amerikanischen Intellektuellen, die mit der Psychoanalyse, der Neoanalyse und mit aktuellen soziologischen Theorien (z.B. G.H. Mead) vertraut waren. Paul Goodman (1911-1972) gilt wegen seines wichtigen gesellschaftstheoretischen Beitrags als Mitbegründer. Die Namensgebung "Gestalttherapie" spiegelt die zentrale Bedeutung gestalttheoretischer Konzepte in Theorie und Praxis des Verfahrens wieder. Die Gestalttherapie wurde im Rahmen der Humanistischen Psychotherapien entwickelt, geht in einigen Punkten aber darüber hinaus.
Weiterentwicklung
In jüngster Zeit werden vor allem systemische Theorien und die bahnbrechenden Ergebnisse der Säuglingsforschung und der Gehirnforschung sowie verschiedene Theorien über strukturelle Störungen eingearbeitet. Die theoretische Basis der Gestalttherapie erweist sich generell als mit der aktuellen Wissenschaftsentwicklung bestens verträglich. Sie enthält sogar Vorwegnahmen der neuesten Erkenntnisse.
Literatur
Fuhr, R. et al.:
Handbuch der Gestalttherapie.
Hogrefe, Göttingen 1999
Perls, F., Hefferline, R., Goodman, P.:
Gestalttherapie. Grundlagen.
Dtv, München 1991 (Original 1951)
Perls, L.:
Leben an der Grenze.
EHP, Köln 1989
Hartmann-Kottek, L.:
Gestalttherapie
Springer, Berlin New York 2005
Francesetti, G. et al.:
Gestalt Therapy in Clinical Practice. From Psychopathology to the Aesthetics of Contact
FrancoAngeli, Milano 2013